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Groß ist die Artemis der Ephesier

Ursula Kampmann
MünzenRevue 11/1996 S.40-42



EPHESOS. Hadrian, 117-138. Medaillon. 38 mm. 27,19 g.   RPC 2073; BMC 224
Vs.   AΔPIANOC - KAICAP OΛMΠIOC
Büste des Kaisers mit Lorbeerkranz n. r. Hadrian trägt einen Brustpanzer, darüber die Ägis.
Auf seiner l. Schulter ist das Schildband zu sehen.
Rv.   EΦEClΩN   Tempel der Artemis Ephesia mit Kultbild. Der Tempel zeigt acht ionische Säulen, deren Schäfte im unteren Drittel mit Reliefs verziert sind. Auf der Sima dreieckige Aufsätze. Im Tympanon ist die Erscheinungspforte zu sehen, die von zwei Niken eingerahmt wird, die die Pforte bekränzen. Die Artemis trägt einen hohen Polos, von dem Taenien hängen. An ihre Arme sind Woll binden gebunden.

Aufregung machte sich breit in der Stadt Ephesos. Ein Prediger war in der Stadt. Paulus hieß er und er sprach von einem neuen Gott. Viele neue Anhänger fand seine Bewegung in Ephesos. Er machte sich allerdings nicht nur Freunde. Besonders ein Silberschmied namens Demetrios hetzte, wo er nur konnte, gegen ihn. Vielleicht tat er das, weil er seinen Lebensunterhalt mit der Anfertigung von kleinen Abbildern des Altares der großen Artemis von Ephesos verdiente. Vielleicht sah er mit der Verkündigung eines neuen Gottes seine eigene Lebensgrundlage bedroht, jedenfalls erzählte er jedem, der es hören wollte oder auch nicht, daß dieser Paulus die Leute überrede, nicht mehr an die Artemis von Ephesos zu glauben. Lebhaft stellte er seinen Zuhörern vor Augen, wie es ohne die Verehrung der großen Artemis von Ephesos um die Stadt bestellt wäre: Keine Pilger zögen mehr in langen Strömen in das berühmte Ephesos; keine Menschenmassen, die beherbergt werden wollten, die Nahrungsmittel und Andenken kauften; ein bedeutender Wirtschaftsfaktor der Stadt fiele einfach ersatzlos weg. Und noch schlimmer, Nestbeschmutzung sei es, zu behaupten, die große Artemis von Ephesos gäbe es gar nicht. Schließlich seien die Ephesier nur deshalb ein besonderes Volk, weil sie unter dem besonderen Schutz der Gottheit stünden. Wie sollte man den Anspruch, als erste bei den Versammlungen des Provinziallandtages einziehen zu dürfen, gegenüber den anderen Städten erfolgreich verteidigen, wenn man nicht mehr darauf verweisen dürfte, Heimat der großen Artemis zu sein. Langsam hatte Demetrios Erfolg. Die öffentliche Meinung wendete sich gegen Paulus. So schloß sich eine große Menge von Leuten dem "spontan" organisierten Protestumzug des Demetrios zum Theater von Ephesos an. Stundenlang skandierte die Masse "Groß ist die Artemis von Ephesos" und Paulus hatte gerade noch Glück, daß ihn der aufgebrachte Mob nicht lynchte.

Die Apostelgeschichte führt uns manchmal eindrucksvoll antikes Selbstverständnis vor Augen. An dieser kurzen, frei nacherzählten Episode können wir gut ablesen, was für eine wichtige Rolle der Artemiskult im Leben der Ephesier spielte. Er war für sie nicht nur ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, sondern auch ein Element des städtischen Stolzes. Der berühmte Tempel wurde deshalb mit Vorliebe auf den städtischen Münzen abgebildet. Hier haben wir eine besonders gut erhaltene Darstellung. Viele Einzelheiten des Tempelbaus sind genau zu erkennen.

Dargestellt ist die Fassade des in der Mitte des vierten Jahrhunderts erbauten Tempels. Er stand an der selben Stelle, an der bereits seit dem 8. Jahrhundert, vielleicht auch schon viel früher eine kleinasiatische Muttergottheit, die die Griechen Artemis nannten, verehrt wurde. Mitte des 7. Jahrhunderts errichtete hier der Überlieferung nach Kroisos statt des bescheidenen Vorgängerbaus einen riesigen Tempel. Herostratos zündete, um in die Geschichte der Menschheit einzugehen, diesen gigantischen Bau, dessen Dachkonstruktion aus Holzbalken bestand, an. Der neuerrichtete Tempel stand dem alten um nichts an Pracht nach. Die Front zeigte - wie hier auf unserer Münze - acht Säulen, die im oberen und unteren Bereich mit Friesen verziert waren. Wenn man sich den unteren Teil der auf der Münze dargestellten Säulen ansieht, kann man tatsächlich erkennen, daß der Stempelschneider sich bemühte, diese Verzierungen wiederzugeben.

Ein Freiraum zwischen den Säulen gibt dem Betrachter der Münze quasi den Blick auf den Innenraum frei: er sieht das Standbild der Artemis von Ephesos. Natürlich stand das Kultbild in Wirklichkeit nicht im Eingangsbereich des Tempels. Es stand von außen unsichtbar im inneren Tempelbereich. Da es aber nicht Sinn einer Münze war, den Tempel der Artemis exakt wiederzugeben, sondern seine Besonderheit zu demonstrieren, benutzte der Stempelschneider den Kunstgriff, das Innere nach außen zu holen. Genau charakterisiert der Künstler das überall bekannte archaische Kultbild. Auf dem Kopf trägt Artemis einen hohen Aufsatz, den sogenannten Polos; ganz oben sieht man eine Mauerkrone, wie wir sie vor allem als Kopfschmuck der kleinasiatischen Stadtgöttinnen kennen. Unten befestigt sind am Kopfschmuck Schleier, die rechts und links vom Kopf der Artemis auf ihre Schultern fallen. Ein einfacher Strich quer über die Brust gibt auf dieser Münze den sonst aufwendig gestalteten, aus mehreren Ringen bestehenden Halsschmuck wieder. Darunter, auf der Münze fast nicht erkennbar, die sogenannten Brüste. Es gibt unzählige Deutungsversuche zu diesem Bestandteil der Ikonographie der Artemis. Sie reichen von der Identifikation der Objekte mit Eiern (mal normal, mal vom Strauß oder von der Biene), Trauben, Nüssen, Eicheln, Amulettanhängern eines Brustschmucks, künstlichen im Kult verwendeten Brüsten, mißverstandenen Metallbuckeln eines Brustpanzers, Datteln, Meteoritengestein bis zu magischen Flämmchen. Am wahrscheinlichsten ist es wohl, daß es sich um Stierhoden handelt. Die Arme hält Artemis - wie wir von verschiedenen Statuen wissen - steif nach vorne gestreckt, was der Stempelschneider auf der Münze natürlich nicht darstellen konnte. Er klappte die Arme seitwärts ins Feld auf. Unterhalb der Handgelenke sehen wir kleine auf Armreifen befestigte Vögel, Statuen zeigen uns, daß es sich dabei um Falken oder Habichte handelte. Von den Armen hängen lange Wollbinden.

Vielleicht haben Sie sich schon einmal gewundert, daß Darstellungen des Kultbildes der Artemis von Ephesos sich nie völlig gleichen. R. Fleischer kann das in seiner Monographie über Artemis von Ephesos und verwandte Kultstatuen aus Anatolien und Syrien, Leiden 1973, S. 130, damit erklären, daß dieser ganze Schmuck abnehmbar und austauschbar war. Wir kennen aus vielen anderen Zusammenhängen den Brauch, Kultbilder zu verschiedenen Anlässen jeweils passend zu bekleiden, ein Brauch, der nebenbei auch heute noch bei Marienstatuen gepflegt wird. (Oder kennen Sie vielleicht das Museum in Brüssel, das die verschiedenen Bekleidungen des Männeken Pis enthält?)


Fassade des Artemistempels in Ephesos. Rekonstruktion von S. Shaw aus dem Jahre 1945.
Aus M. J. Price und a. L. Trell, Coins and their Cities. Architecture on the anciet coins of Greece,
Rome and Palestine, London 1977, S.126.

Im Tympanon, dem dreieckigen Giebel über der Säulenhalle, sieht man noch ein weiteres hochinteressantes Detail. In der Mitte, eingerahmt von zwei kranztragenden Niken, ist eine kleine Tür dargestellt. Links und rechts davon sieht man zwei weitere jeweils nach außen gelagerte Figuren. Einen kleinen Hinweis, wozu diese Pforte in der Mitte diente, gibt uns Plinius, NH 14, 1, 9, indem er schreibt, daß es in Ephesos eine Treppe gab, die vom Boden zu Öffnungen im Tympanon geführt haben soll. Es mußte also wichtig sein, daß irgend jemand vom Inneren des Tempels auf das Dach gelangen und in diesem Fenster oben erscheinen konnte. Tatsächlich haben wir eine Inschrift (IvE 24), in der von den Epiphanien der großen Artemis gesprochen wird:
"... Da die Schutzgöttin der Stadt, Artemis, nicht nur in ihrer Heimatstadt besonders geehrt wird, die sie durch ihre Göttlichkeit berühmter als alle anderen Städte gemacht hat, sondern auch bei allen anderen Griechen und bei den Barbaren, so daß ihr an allen Orten Heiligtümer und Haine geweiht und ihr Tempel errichtet und Altäre bestimmt sind auf Grund ihrer offenbaren Epiphanien (= Erscheinungen, Anm. des Verf) und da der beste Beweis ihrer Verehrung ist, daß ein Monat nach ihr benannt wird, ... in welchem Monat Feste und Monatsfeiern abgehalten werden, besonders in unserer Stadt, der Nährmutter ihrer - der ephesischen - Göttin, hielt das Volk der Ephesier es für richtig, daß der ganze Monat mit dem göttlichen Namen heilig und der Göttin geweiht sein soll, und entschied sich durch dieses Psephisma den Gottesdienst dieses Monats zu regeln ... Denn wenn so die Göttin noch besser geehrt wird, wird unsere Stadt berühmter und glücklicher sein zu aller Zeit ...

Die Tür im Tympanon diente also dazu, daß Artemis der erwartungsvollen und staunenden Menge erscheinen konnte. Wie das geschah, wissen wir nicht. Vielleicht stieg eine in die Gewänder der Artemis gekleidete Priesterin zum Dach empor, um sich den Gläubigen zu zeigen. Vielleicht wurde das Holzbild selbst aus dem Inneren des Tempels hervorgeholt. So gab es anläßlich des Frühlingsbeginnes in Ephesos ein großes Fest, um Artemis dazu zu bewegen, Fruchtbarkeit für die Stadt zu schenken. Dabei wurden der Artemis Stiere geopfert. Wie wichtig dieses Stieropfer war, sieht man daran, daß Bestandteile der Ikonographie der Artemis dem Ritual entnommen sind. Die Wollbinden zum Beispiel, die von ihren Armen herabhängen, dienten dazu, die Hörner der Stiere zu bekränzen. Bei dem lange umstrittenen Brustschmuck der Göttin scheint es sich um die Hoden der dargebrachten Stiere zu handeln. Die den Boden verkörpernde Muttergöttin Artemis wurde damit symbolisch von dem im Stier verkörperten Wettergott befruchtet. Vielleicht wurden nach Vollzug des Opfers vor dem Tempel die Wöllbinden und die Hoden in das Innere gebracht. Anschließend zeigte sich die damit neu bekleidete Artemis ihren Gläubigen. Priester hatten das ehrwürdige Standbild mit Hoden und Binden behängt und die Treppe zum Fenster im Dach hinaufgetragen.

Vielleicht kommt Ihnen dieses Ritual ein wenig unglaubwürdig und sehr archaisch vor. Welcher rationale Mensch kann daran glauben, daß aus einem kleinen Fenster in einem Gebäude eine Gottheit herausschaut. Wie konnten die Griechen als intelligente Menschen an so etwas glauben. Sie hatten den Beweis als Mittel der Naturwissenschaften eingeführt und Schluß gemacht mit der Erklärung von Phänomenen durch göttliches Einwirken. Und trotzdem stand da eine große Masse von Gläubigen stundenlang in Erwartung der Epiphanie der Artemis. Nun, wenn sie darüber ein wenig erhaben den Kopf schütteln, dann möchte ich Sie daran erinnern, daß selbst der Papst den österlichen Segen nicht vom Altar aus den Gläubigen in aller Welt erteilt, sondern daß er dazu auf einen besonderen Balkon steigt. Dieser Akt des Glaubens findet in unserer ungläubigen Zeit vor Tausenden von Anwesenden auf dem Petersplatz statt und wird vom Fernsehen jedes Jahr neu in alle Welt übertragen. Obwohl theologisch gesehen, der Segen jedes Priesters gleich wiegt, ja sogar der Laie ihn auf andere herabflehen kann, finden sich Millionen von Menschen, die zum Teil um das farbenprächtige Schauspiel zu genießen, zum Teil nach dem Motto "Schaden kann's ja nicht" und sogar aus tiefem Glauben heraus diese katholische Epiphanie miterleben wollen.

Artemis von Ephesos war ein fester Bestandteil des Lebens der Bewohner der Stadt Ephesos. Durch ihrer Schutz wußten sie ihre Stadt sicher und geborgen. Die Feiern ihr zu Ehren bildeten die lang erwarteten festlichen Höhepunkte im städtischen Leben. Die Pilger, die zu Artemis kamen, um Hilfe zu erflehen, ließen genauso wie die Touristen, die kamen um den Tempel zu besichtigen, Geld in der Stadt. Kein Wunder also, daß ein harmloser Wanderprediger wie Paulus die Ephesier in solchen Aufruhr versetzen konnte. Die Behauptungen, alle antiken Götter seien Trug, und es gäbe nur einen Gott, der sich noch dazu an keinem festen Platz befände, der überall sei, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt seien, mußten Zündstoff sein für die mit sich und ihrer Welt zufriedenen Ephesier. Gegen diese Botschaft konnte man nur eines tun, sie niederbrüllen. Ein eindrückliches Bild: Der brüllende Mob, der seinen alten bequem gewordenen Glauben für die Ewigkeit erhalten will.

Im Jahre 1863 brach der Engländer J. T. Wood auf, um den berühmten Tempel der Artemis von Ephesos zu finden. Von diesem bedeutenden Bauwerk, das in der Antike zu den Sieben Weltwundern gezählt wurde, war nichts mehr zu sehen. Ganze 6 Jahre dauerte es, bis der Ausgräber an dem Silvesterabend 1869 in einem Suchschnitt das Marmorfundament des verschollenen Tempels freilegen konnte. Durch den Anstieg des Grundwassers waren auch die letzten oberirdischen Reste des Artemisions verschwunden. Heute, nach jahrelangen, immer wieder aufgenommenen Grabungen, sieht der enttäuschte Reisende nur noch eine Wüste von Steinen, die kein Zeugnis mehr ablegen kann von der einstigen Größe der Artemis der Ephesier.


Artemis von Ephesos.
Zeichnerische Wiedergabe einer Statue im Museum von Neapel.
Aus M.K. und J.Nolle, Götter, Städte, Feste. Kleinasiatische Münzen der römischen Kaiserzeit, München 1994, S.57.

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